Mein Weg auf dem Camino – eine Reise zu mir selbst 2

Der Camino hat seine eigenen Gesetze: Keine Begegnung geschieht zufällig, und jede Person hat ihre Aufgabe. Ich verstand das erst, als ein Fremder aus Thailand mir gleich dreimal zur Seite stand – immer dann, wenn ich ihn am dringendsten brauchte. Von da an sah ich den Weg mit anderen Augen. Menschen wurden zu Spiegeln, Zeichen am Wegrand zu Botschaften, und jede Begegnung trug ein Stück meiner Geschichte weiter.

Mein Weg auf dem Camino – eine Reise zu mir selbst 2 .de

Spanien – 2006 – #00

Camino de Santiago – Teil 2: Die Menschen und die Zeichen

Wenn ich heute an meine Pilgerreise zurückdenke, dann denke ich nicht zuerst an die Landschaften oder die Kathedralen, nicht einmal an die unzähligen Kilometer, die ich gelaufen bin. Ich denke an die Menschen. An die Fremden, die für Stunden oder Tage an meiner Seite waren, und die trotzdem eine Spur in meinem Leben hinterlassen haben. Ich hatte den Satz oft gehört: „Auf dem Camino hat jede Begegnung eine Aufgabe.“ Aber erst unterwegs habe ich begriffen, was das wirklich bedeutet.

Die zweite Begegnung mit dem Thailänder

Der Thailänder war der Erste, der mir diese Wahrheit zeigte. Nach unserem ersten Zusammentreffen – als er mir die Zeichen des Weges erklärte – hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich war überzeugt, er sei längst weitergezogen.

Doch ein paar Tage später, früh am Morgen, tauchte er plötzlich wieder auf. Ich stand an einem Brunnen, mein Rücken schmerzte, und der Rucksack schnürte mir fast die Luft ab. Er sah mich, musterte meinen viel zu großen Rucksack und schüttelte den Kopf. Mit einem Lächeln, das mehr Mitgefühl als Spott war, sagte er: „Too much.“

Er erklärte mir, dass der Camino kein Ort für Ballast ist – weder äußerlich noch innerlich. „Empty your bag,“ sagte er. „Only what you need.“ Ich verstand sofort, dass er nicht nur von Wasserflaschen und T-Shirts sprach, sondern von dem, was ich mit mir herumschleppte: Sorgen, Erwartungen, all das „Was wäre wenn“.

An diesem Abend setzte ich mich hin, öffnete meinen Rucksack und begann, gnadenlos auszusortieren. Dinge, die mir am Anfang so wichtig erschienen, ließ ich zurück. Und plötzlich war nicht nur der Rucksack leichter – auch ich fühlte mich leichter.

Als ich am nächsten Morgen aufbrach, spürte ich: Das war mehr als ein praktischer Tipp gewesen. Es war eine Lektion fürs Leben.

Schmerz und Hilfe

Die Reise ging weiter, und mit jedem Tag forderte der Camino seinen Tribut. Meine Knie begannen zu schmerzen. Anfangs nur leicht, dann immer stärker. Jeder Abstieg wurde zur Qual, und ich fragte mich, wie ich die restlichen Wochen durchstehen sollte.

Und dann, wie bestellt, tauchte er wieder auf – der Thailänder. Zum dritten Mal. Er sah mich humpeln, sprach mit mir kein großes Wort, sondern führte mich direkt zu einem kleinen Arzt im nächsten Dorf. Dort bekam ich eine Salbe, Tipps für das richtige Gehen, und vor allem das Gefühl: Ich werde das schaffen.

Als ich aus der Praxis kam, war der Thailänder verschwunden. Ohne Abschied, ohne Erklärung. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Doch die drei Begegnungen hatten sich tief in mein Herz gebrannt. Er war gekommen, als ich ihn brauchte – und gegangen, als seine Aufgabe erfüllt war.

 

 

Jede Begegnung zählt

Von da an begann ich, den Satz „Jede Person auf dem Camino hat eine Aufgabe“ anders zu betrachten. Ich war achtsamer, hörte genauer hin, wenn jemand mit mir sprach. Und tatsächlich: Jeder Mensch brachte mir etwas mit.

Da war die ältere Französin, die mir beim Abendessen von ihrem verstorbenen Mann erzählte und mir zeigte, wie sehr Liebe über den Tod hinaus wirkt.
Da war der junge Spanier, der mir beibrachte, dass man manchmal singen muss, auch wenn die Füße schmerzen, weil Freude stärker ist als Müdigkeit.
Und da war die Deutsche aus Köln, die mir lachend erklärte, dass Blasen an den Füßen ein Ritterschlag seien – und die mir am nächsten Tag mit Pflastern half, als ich kaum noch auftreten konnte.

Es waren keine Zufälle. Jede Begegnung berührte etwas in mir, als würde der Camino gezielt die richtigen Menschen zur richtigen Zeit an meine Seite stellen.

Gespräche im Gehen

Das Schöne am Camino ist, dass die Gespräche nicht geplant sind. Man geht nebeneinander her, tauscht ein paar Worte, manchmal auch stundenlang. Manche laufen schweigend mit dir, und gerade dieses Schweigen wird zu einer tiefen Verbindung.

Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem ich stundenlang mit einem Italiener ging. Wir sprachen kaum – ein paar Sätze über das Wetter, über unsere Blasen, mehr nicht. Aber als wir am Abend zusammen in der Herberge ankamen, fühlte es sich an, als hätte ich einen Bruder gefunden.

Der Camino schweißt Menschen zusammen, weil man nichts vorspielen kann. Du bist verschwitzt, müde, verletzlich – und genau das macht dich ehrlich.

 

Zeichen am Wegesrand

Neben den Menschen waren es auch die kleinen Zeichen, die mich begleiteten. Manchmal war es nur ein Pfeil an einer Mauer, manchmal ein Kreuz aus Steinen am Boden. Einmal lag ein kleiner Zettel auf einer Bank: „Don’t give up – you are stronger than you think.“ Ich weiß bis heute nicht, wer ihn dort hingelegt hatte. Aber ich weiß, dass er für mich bestimmt war.

Solche Momente gaben mir das Gefühl, dass der Camino nicht einfach nur ein Weg aus Erde und Steinen war. Er war lebendig. Er sprach mit mir – durch Menschen, durch Symbole, durch kleine Zufälle, die keine Zufälle waren.

 

Vertrauen lernen

Mit jedem Tag wuchs mein Vertrauen. Am Anfang war da Unsicherheit, die Angst, mich zu verlaufen oder zu scheitern. Aber je länger ich unterwegs war, desto mehr begriff ich: Ich muss nicht alles wissen. Ich muss nicht alles kontrollieren.

Der Camino trägt. Er führt dich, wenn du bereit bist, dich führen zu lassen.

Und dieses Vertrauen, das ich auf dem Weg lernte, begann auch in mir selbst zu wachsen. Ich merkte: Auch wenn ich zusammenbreche, auch wenn ich zweifle – ich finde weiter. Vielleicht nicht sofort, vielleicht nicht ohne Hilfe, aber ich finde weiter.

Ein neuer Rhythmus

Nach einigen Wochen hatte ich meinen eigenen Rhythmus gefunden. Ich stand früh auf, lief im Morgengrauen los, suchte meine Muscheln, hörte auf die Menschen, die mir begegneten. Der Rucksack war leichter geworden, meine Schritte auch.

Natürlich tat mir oft alles weh – meine Füße, meine Knie, mein Rücken. Aber da war auch eine neue Kraft in mir. Eine, die nicht aus Muskeln kam, sondern aus dem Herzen.

Und immer wieder dachte ich an den Thailänder. Drei Begegnungen, drei Lektionen: Den Weg finden, Ballast loslassen, Hilfe annehmen. Er war wie ein Spiegel dessen, was der Camino mir beibringen wollte.

Am Ende des zweiten Teils

Wenn ich abends in den Herbergen lag, umgeben von Menschen aus aller Welt, hörte ich ihr Atmen, ihr Schnarchen, manchmal ihr Weinen. Und ich wusste: Wir alle tragen unsere Geschichten auf diesem Weg. Wir alle suchen etwas – Trost, Hoffnung, Antworten.

Der Camino verband uns. Er machte uns zu Gefährten, auch wenn wir nur wenige Stunden zusammen gingen. Und er machte mir klar: Ich bin nicht allein. Nicht auf diesem Weg, nicht in meinem Leben.

tourbilder .de

Wer ist eigentlich lovingtailwind?

aboutme #04

Hier auf lovingtailwind schreibe ich so, wie ich erlebe: offen, direkt, mit Herz und manchmal einem kleinen Augenzwinkern.

Lass uns Freunde werden

gern gelesen .de

kommentare .de

0 Kommentare